Mit der Zeit spielen – Collagen Zeichnungen von Susanne Haun

Gestern habe ich eines der großen Porträtfotos aus meinem gefundenen Fotoalbum zerrissen. Das Foto selber war so dominant, dass ich es nur in Einzelteilen zu etwas Neuem zusammenfügen konnte.

Blatt 4 Der Turm 25 x 25 cm (c) Collage von Susanne Haun
Blatt 4 Der Turm 25 x 25 cm (c) Collage von Susanne Haun

In einem meiner Seminare an der FU sprachen wir über Michail Bachtins Chronotopos. Bachtin war ein russischer Literaturwissenschaftler und Kunsttheoretiker. Ich frage mich ob es etwas wie Schicksal gibt, dass ich die Vergangenheit finde, in der Gegenwart bearbeite und dazu auch noch Schriften von Bachtin zu lesen bekomme.

Chrono ist die Zeit und Topos der Raum daraus folgt die Raumzeit oder Formen der Zeit.

In meinen Collagen lege ich zur Zeit zwei Zeitstränge übereinander. Da ist die Zeit der Frau X., die ich nicht kenne, aber in der ich jeder Frau aus dem Mietkomplex des Fundortes Mülltonne sehe. Dann ist die Zeit der Frau H., meiner selber, in der ich die Arbeiten erstelle. Die Fotos entstanden lt. Beschriftung in den 1960ziger Jahre, ich bearbeite sie 2012.

Das Buch „Formen der Zeit“ ist für mich eine einzige Inspiration. Ich mag die Vielseitigkeit des Zeit Begriffs. Die Zeit ist wie eine Straße, Alltagszeit, nichtzyklische Zeitreihen, Nebenzeit, Wendepunkt, das sind viele Zeitebenen, über die ich nachdenken kann und die ich in meinen Collagen einbringen kann. Ich habe  eine kleine spontane erste Zeitübersicht für meine Arbeit erstellt.

Trotz der verschiedenen Zeitebenen haben sich die Aktivitäten nicht geändert. Frau X. ging in den Zoo, lachte, schwamm, stand vor dem Schloss Charlottenburg so wie Frau H. das auch macht, eben nur 50 Jahre später.

Blatt 6 ZerissenBlatt 5 25 x 25 cm (c) Collage von Susanne Haun
Blatt 6 ZerissenBlatt 5 25 x 25 cm (c) Collage von Susanne Haun

Der Wendepunkt ist an der Stelle, wo Frau H. das Album aus dem Müll herauszieht und betrachtet. Frau X. ist nun vom Zeitstrang entfernt. Frau R. gibt Frau H. die Möglichkeit der Betrachtung durch Bachtin.

Jeder einzelne Betrachter der Collagen  eröffnet wieder einen neuen Zeitstrang.

In Gedanken beschäftige ich mich mit der Weiterverarbeitung und Präsentation der fertigen Collagen.

Blatt 5 Im Strandbad 25 x 25 cm (c) Collage von Susanne Haun
Blatt 5 Im Strandbad 25 x 25 cm (c) Collage von Susanne Haun

Am Rande bemerkt:
„Tolstoi hielt nichts von Augenblicken, er war nicht daran interessiert, sie mit Wesentlichem und Entscheidendem auszufüllen; das Wort „plötzlich“ kommt bei ihm nur selten vor und leitet niemals ein bedeutendes Ereignis ein. Im Unterschied zu Dostojewski liebt Tolstoi die Ausdehnung der Zeit.“²

Ich habe mir vor der partiellen Lektüre Bachtins über die Zeit in Romanen und auch in der bildenden Kunst keine Gedanken gemacht.  Es macht mir Freude, über die Zeit nachzudenken.

For my English-speaking readers:
Yesterday I ripped one of the great portrait photos from my in waste founded photo album. The photo itself was so dominant that I could work with them only in a few parts to something new.

In one of my seminars at the FU, we talked about Michail Bachtins chronotopes. Bachtin was a Russian literary critic and art theorist. I wonder if there is something like destiny that I find the past, present and get even writings of Bachtin.
In my collages I make the time on two time lines.
Each individual reader of collagen re-opened a new time line.
In my mind I am concerned with the processing and presentation of the finished collages.

__________________________________________________________________
²Bachtin, Michail, Formen der Zeit im Roman, Frankfurt am Main, 1985 [1975]

6 comments

  1. Deine Überlegungen zur Zeit finde ich sehr interessant. Deine Seminare bei der FU scheinen sich sehr inspirierent auf deine Arbeit aus zu wirken. Ein bischen beneide ich dich um die Möglichkeiten die du in Berlin hast. Für mich ist es immer eine halbe Weltreise wenn ich nur mal ins Museum möchte.
    Dir einen schönen und kreativen Sonntag Bine

    1. Liebe Bine,
      ich bin auch durch und durch Berlinerin, aber Berlin ist sehr groß, 50 Minuten brauche ich mit der S-Bahn auch zur Uni.
      Aber es lohnt sich, ich fahre an 1 bis 2 Tagen die Woche hin. Je nach dem, wie ich Termine habe.
      Ich wünsche dir auch einen schönen Sonntag Abend!
      Liebe Grüße Susanne

  2. Wundervolle Collagen, die schon entstanden sind! Ein wirklich spannendes Thema und es ist einfach toll, deine Arbeiten so hautnah miterleben zu können. Klasse.
    Ein ganz schönen Sonntag dir,
    Anette

Kommentar verfassen