Primeln, Kant und die Humanität – Zeichnung von Susanne Haun

Ich habe dieser Tage eine schöne, traurige und auch interessante Episode aus Kants Leben gelesen.

Neun Tage vor Kants Tod besuchte sein Arzt und Freund ihn und Kant stand alt, krank und fast blind auf und setzte sich erst wieder, als sein Freund sich gesetzt hatte.
Als Kant wieder zu Kräften kam, sagte er
„Das Gefühl für Humanität hat mich noch nicht verlassen.“1

Verwelkte Primel 31 x 23 cm Tusche auf Bütten (c) Zeichnung von Susanne Haun
Verwelkte Primel 31 x 23 cm Tusche auf Bütten (c) Zeichnung von Susanne Haun

Panofsky geht es in seiner Einleitung des Buches „Sinn und Deutung in der bildenden Kunst“, in der er über Kant berichtet, um die Bedeutung des Humanismus, auf die ich hier nicht eingehen will.

Ich habe diese Worte mit dem Bewußtsein der Tochter oder des sterblichen Menschen an sich gesehen. Im Laufe des Lebens baut sich ein jeder Mensch ein bestimmtes – ehrenhaftes – Verhalten auf.

Mein Vater hat mich bis er Mitte 60 war, in allen handwerklichen Dingen unterstützt. Er hat Regale für meine Leinwände gebaut und mir Passepartouts geschnitten und war mit helfender Hand für mich da.
Ich erinnere mich, wie wir in meinen Atelier standen und mein Vater zu mir sagte, dass sei das letzte mal, dass er mir in dieser Art helfen könne, die Kraft große Spanplatten zu heben und als Regal zu verbauen, hätte ihn verlassen und auch sein Blick für Maße wäre verschwunden, so dass er schief schneiden würde. Inzwischen sind 10 Jahre vergangen, mein Vater ist nun schon 76 Jahre alt.

Größenvergleich - das innere der Primel (c) Foto von Susanne Haun
Größenvergleich – das innere der Primel (c) Foto von Susanne Haun

Wie geht der Mensch damit um, wenn er aufgrund des körperlichen Verfalls nicht mehr nach seinen Grundsätzen leben kann?
Wie Kant, der aufsteht, wenn Besuch kommt. Es ist eine einfache Respektbezeugung, die auch mir im Fleisch und Blut liegt und die ich sogar noch an meinen Sohn weitergegeben habe. Geht es mir nicht gut und ich kann nicht aufstehen, wenn Besuch kommt oder geht, entschuldige ich mich dafür.

Mit diesen Gedanken habe ich meine nun inzwischen zum Teil etwas verwelkte Primel gezeichnet.

Einige Primeln welken (c) Foto von Susanne Haun
Einige Primeln welken (c) Foto von Susanne Haun

For my English-speaking readers:
I have read these days a beautiful, sad and interesting episode of Kant’s life.
Nine days before Kant’s death, visited him his doctor and friend, Kant stood up and squared old, sick and almost blind and sat down again when his friend was seated.
When Kant regained his strength, he said
„The sense of humanity has not left me yet.“
With these thoughts, I drew my now become part of something wilted primrose.

________________________________________________
1Panofsky, Erwin. Sinn und Deutung in der bildenden Kunst (Meaning in the Visual Arts). Köln 1978.

20 comments

  1. liebe Susanne,
    indem wir dem Verwelken unserer Eltern zuschauen werden wir an unser eigenes Welken erinnert, einerseits ist es schmerzhaft, andereseits eine Lernaufgabe. Mittlerweile empfinde ich jede Lebensphase als lehrreich, jede hat ihre eigenen Themen, wenn wir sie wirklich zu uns nehmen, dann können wir am Ende vielleicht mit einem Lächeln auf dem Gesicht gehen.
    Die Anekdote von Kant hat mir eine Gänsehaut gemacht- Respekt vor dem/der anderen bis zuletzt, ja, den möchte ich mir auch erhalten!

    berührte Grüße
    Ulli

    genieße den Sonntag

    1. Liebe Ulli,

      ich sehe es auch so, dass jede Lebensphase interessant und schön ist, wenn auch manchmal sehr schmerzhaft.
      Und wenn wir es klug anstellen, können wir in jeder Lebensphase Glück und Zufriedenheit finden.

      Natürlich habe ich enorme Angst vor dem Tod meiner Eltern aber das Leben bereitet uns langsam darauf vor.
      Wenn wir die Ältesten sind, dann lastet auch alle Verantwortung auf uns, niemand ist dann mehr da, der uns bedingungslos liebt, wie es Eltern tun.

      Respekt empfinde ich auch als sehr wichtig.

      Es war ein schöner Sonntag, ich wünsche dir auch einen schönen Restsonntag, Liebe Grüße Susanne

      1. liebe Susanne, jetzt erst merke ich wie lange ich nicht mehr hier war … sorry, gerade schwinge ich wieder den Kochlöffel und bin ansonsten etwas angeknackst …

        Ich finde es interessant, dass du schreibst dass dann niemand mehr da ist, der einen bedingsungslos liebt, wenn die Eltern sterben … ich kenne diese bedingungslose Liebe nur von meiner Großmutter und meiner Tante … ich empfinde es als ein großes Geschenk des Lebens, wenn man Eltern hat, die einem dieses vermitteln!!! Liebe und Respekt, Toleranz, Akzeptanz, Mitgefühl, ich glaube sie alle schwingen miteinander …

        ich sende dir einen herzlichen Abendgruß – es gäbe noch viel zu diesem Thema zu sagen, aber ich bin grad ziemlich k.o. nach 10 Stunden Kachellauf

        Ulli

        1. Liebe Ulli,

          danke für deine guten Wünsche zur Ausstellung und für die vielen Kommentare.
          Zum 60 Sekunden Kalender-Selbstprtrait-Projekt: Ich finde es sehr wichtig, dass ich nichts beschönige. Es sind immer genau diese 60 Sekunden Selbst, in denen ich zeichne und die müssen ehrlich sein.

          Ich bin mit sehr viel Liebe aufgewachsen. Meine Eltern haben in ihrem Rahmen und in ihrem Denken für ihre Kinder immer alles getan und haben immer alles gegeben und tun das auch heute noch. Und ich liebe sie auch. Das ist eine solide Grundlage, denn trotz allem, gibt es natürlich trotzdem Spannungen. Meine Eltern waren nicht glücklich darüber, dass ich Künstlerin bin. Über meine Ausbildung gab es sehr viele Diskussionen und ich habe mich nicht immer durchsetzen können. Aber das hat die Liebe nie Abbruch getan.

          Ich hoffe, du konntest dich des Nachts gut erholen und mußt heute nicht wieder 10 Stunden den Kochllöffel schwingen – oder machst du es gerne?

          Liebe Grüße und einen schönen Tag wünscht dir Susanne

          1. ich mache es schon gerne, aber bin Zurzeit etwas malat und dann ist es wirklich anstrengend- danke für deine Nachfrage …
            was du zu deinen Eltern hin schreibst hört sich für mich, trotz unterschiedlicher Meinungen, nach Respekt an, nun verstehe ich auch, wie du es zuvor gemeint hast- danke dir

            herzliche Grüße
            Ulli

            1. Liebe Ulli, icih hoffe, es geht dir schon ein wenig besser…
              Ja, meine Eltern und mich verbindet viel Liebe und Respekt.
              Ich weiss inzwischen auch, dass sie mich lieben auch wenn ich meine eigenen Wege gehe.
              Liebe Grüße sendet Susanne

  2. Es freut mich, dass Kant und seine Lehre des Humanismus und der Aufklärung wieder einmal im Alltag auftaucht. In der Freimaurerei wird die Erinnerung an ihn und seine Philosophie sehr lebendig gehalten und hoch geschätzt. Seine Ablehnung jeglichen Dogmatismus, sein Standpunkt hinsichtlich der Religion („Es ist nur eine Religion, aber es kann vieler Arten des Glaubens geben“), sein Sittengesetz, der moralische Theismus, seine Lehre, daß ewiger Friede und ein idealer Staat Endzweck der menschlichen Geschichte sind, – die wichtigsten Teile seiner Philosophie – , klingen, als wären sie auf dem Grund der freimaurerischen „Alten Pflichten“ aufgebaut. Andererseits hat er entscheidend zum philosophischen Unterbau des neuzeitlichen freimaurerischen Denkens beigetragen und war eng mit den bedeutendsten Freimaurern Königsbergs wie Theodor Gottlieb von Hippel, Johann Gottlieb Frey, seinem Verleger Joh. Jakob Kanter und seinem Testamentvollstrecker Pfarrer Wasianski befreundet.
    Seine Gedanken lassen uns der unausweichlichen Wahrheit, dass unser Leben endlich ist, bewusst und gelassen entgegensehen.

    1. Danke für deine interessanten Ausführungen, Reinhard.
      Ich kenne mich in der Lehre der Freimaurer nicht aus aber ich weiss, dass es viele Arten des Glaubens gibt.
      Wichtig finde ich, auch jeden Tag das kleine Glück zu geniessen und es in sich selber zu suchen und finden.
      Nichts ist schlimmer als das eigene Glück abhängig von anderen zu machen. Welche Bürde man da den anderen auferlegt!
      Einen schönen Sonntag wünscht dir Susanne

  3. Beautiful post – yes „suddenly“ become our parents (very) old – even though we know it so I think anyway it somehow comes „unexpected“ – but the good experiences we store in our hearts which are our „backpack“… 🙂

    1. Kann ich deutsch schreiben, Andrikken?
      Wenn du alles deutsche verstehst? Du kannst englisch antworten, ich verstehe es in der Regel … 🙂 🙂 🙂
      Es ist komisch für uns Kinder, wenn die Eltern plötzlich Hilfe brauchen. Sie sind immer so stark gewesen!
      Grüße von Susanne

      1. Natürlich – bitte auf Deutsch schreiben… 🙂

        Yes it is a little strange to take over the role
        – but it’s probably even harder for them to give up the role… 🙂

        1. Guten Morgen, Andrikken!
          Es ist immer schwer, wenn man eine Rolle neben der Gesellschaft inne hat.
          Aber es ist gut, wenn man ganz zu sich selber steht!
          Sonst ist man ein Leben lang unzufrieden.
          Einen schönen Tag wünscht dir Susanne

  4. dein beitrag trifft mich in einer situation, in der ich dies im extremen erlebe. es sind die kleinen momente, die einem da das herz brechen.. „Ich muss jetzt gehen, vater!“ – „Kann ich mitkommen? Nach Hause?“ und ich muss verneinen…

    1. Ja, Flattersatz, diese Situation, in der du bist, kann ich sehr gut nachvollziehen, meine Mutter war 3 Monate letztes Jahr in verschiedenen Krankenhäusern und sie schaute uns auch so oft mit großen Augen an, dass sie nach Hause möchte.
      Ich wünsche dir viel Kraft und trotz allem auch Freude mit deinem Vater, Liebe Grüße sendet dir Susanne

Kommentar verfassen