Was bedeuten Fantasie und Erinnerung?

Vor kurzem habe ich den künstlerischen Blog von Gerda Kazakou (siehe hier) entdeckt.

Seither stehen wir im regen Austausch und Gerda stellte mir zu meinem Beitrag „Das Kunstwerk ist das bewusste Produzieren eines Äußerlichen“ (siehe hier) einige Fragen:

„Mir gefällt es, dass du versuchst, dir und uns etwas begreiflich zu machen, was schwer zu begreifen ist. Was bedeutet zB Fantasie und Erinnerung sollen getrennt sein? Selbst wenn man annimmt, dass Fantasie Neues schafft und Erinnerung Altes reproduziert, kommt Fantasie ohne das erinnerte Material wohl kaum aus. Woraus soll sie schöpfen, woraus gestalten? Was meinst du?“

 

Florales (c) Zeichnung von Susanne Haun
Florales (c) Zeichnung von Susanne Haun

 

Es ist eine der Hauptfunktionen meines Blogs, ihn für meine Selbstreflektion zu nutzen. Ein Plus sind die Kommentare, die ich erhalte und die mich in dieser Reflektion mit neuen Fragen unterstützen und meine Fragen versuchen zu beantworten.

Hegel schreibt, dass der Künstler etwas Neues schafft, dass dann wahrscheinlich nicht aus der Erinnerung kommen soll. Aber ich gebe dir recht, Gerda, ich persönlich denke auch, dass ohne Erinnerung an Altem kein Neues geschafft werden kann. Wenn wir das Alte zur Schaffung von Kunst nicht nutzen dürfen, dann würden wir von der Stunde Null beginnen, also vom Geist des Neandertalers? Braucht es nicht die gesamte Welterfahrung um Neues zu schaffen?

Ich habe Hegel so verstanden, dass die Kraft der Schöpfung aus dem absoluten Geist kommt, der wiederum als Unendlichkeit der Endlichkeit zu sehen ist.

Die Endlichkeit beschreibt Hegel als befangen und beschränkt. Der unendlich Geist bestimmt aus sich selber, was das wahrhaft Wahre ist (S. 128).

Hier ist dann auch die Frage, ob die Erinnerung nicht zum wahrhaft Wahren gehört.

Vielleicht definiert er Erinnerung als nicht neu und Kunst soll neu sein. Sind dann die klassischen Kunstarten noch neu? Kommt hier der Begriff Avantgarde ins Spiel?

 

Mein bearbeiteter Hegel (c) Foto von Susanne Haun
Mein bearbeiteter Hegel (c) Foto von Susanne Haun

 

In Bezug auf die Dichter Goethe und Schiller schrieb Hegel (S.46), dass sie sich mit der „Hintansetzung aller Regeln, die damals fabriziert waren, von vorne angefangen und absicht gegen jene Regeln gahandelt, worin sie denn andere noch bei weitem überboten.“

Den Zustand der Erregung, könnten sie auch mit zuhilfe einer Champagnerflasche erreichen, schreibt Hegel ebenfalls auf Seite 46.

Ich frage mich, ob Hegel mit der Fantasie ohne Erinnerung das absolut Neue meint?

„Dadurch macht er sich in seinem höchten Gebiete für sich selbst zum Gegenstande seines Wissens und Wollens. Das Absolute selber wird Objekt des Geistes, indem der Geist auf die Stufe des Bewußtseins tritt uns sich in sich als Wissendes und diesem gegenüber als absoluter Gegenstand des Wissens unterscheidet.“² s

Aber was will er mir damit sagen?

Jede Seite, ja jeder Satz (!)  in Hegels Werk birgt unendlich viel Diskussionsstoff und 90 Minuten Seminar für 40 Seiten Hegel sind ein Ding der Unmöglichkeit!

Und dann stelle ich mir natürlich die Frage, was bedeutet das alles für mich als Künstlerin?

 

 

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²Hegel, G.W.F., Werke in 20 Bänden, Band 13, Vorlesung über die Ästhetik I, Frankfurt a.M., 1970, Seite 130.

12 comments

  1. Eine umfängliche Diskussion ist hier leider nicht möglich. Vielleicht kann man Hegels Gedanken in etwa so verstehen: die Fantasie schöpft aus dem Unendlichen,während sich die Erinnerung dem zuwendet, was tatsächlich geschehen ist. Dies Tatsächliche ist ein winziger Bruchteil des absolut Möglichen, und die Erinnerung ist nur ein Bruchteil des Bruchteils.-
    Wenn der wahre Künstler die Form sucht, die seiner Vorstellung angemessen ist, bezieht er sich zwar auf schon Vorhandenes, bleibt aber nicht dabei stehen. Man sieht das in der gesamten Kunstgeschichte: es gibt die wahren Künstler, die neue Form für neue Gedanken schaffen (zB Goethe, Faust), und nachahmende Künstler, die sich erprobter Formen bedienen und sie nur ein wenig anpassen. Die sind dann modisch, aber man vergisst sie wieder.

    1. Danke, Gerda! Ja, da hast du recht! Besonders das Modische sieht man sich schnell über. Wobei darunter Klassiker sind, wie die Stühle von Marcel Breuer die dann bleibend sind. Aber natürlich – sie waren vorher das Neue!

  2. Sehr interessante Gedanken und vor allem Fragen. Ja, die Erinnerungen tragen wir in uns, sie verändern sich mit jeder neuen Erfahrung, mit jeder wiederholten Erfahrung. Sie überlagern sich, sie mischen sich… Die Kunst, Künstlerinnen und Künstler strebt wohl immer bzw. oft nach neuen Wegen, sich auszudrücken… Neu, gänzlich neu, ohne Altes, ohne Erfahrenes…? Sehr schwer vorstellbar… Eine Ahnung, wenn wir erleben, wie Kinder auf die Welt kommen und Stück für Stück erkunden, sich kreativ ausdrücken… – Spontane Gedanken… Danke für die Anregungen… Weiterdenken… Liebe Grüße, Doreen

    1. Danke, Doreen. Hegel liefert ernom viele Thesen, um sich Gedanken zu machen. Ich bin sehr fasziniert von Hegel. Strebt der Künstler nach dem Neuen oder ergibt sich das Neue aus seinem Geist als automatismus der Weiterentwicklung des Geistes? Ich weiß es nicht.

  3. bin begeistert, da gehen gerade Welten auf … ich bin wirklich dakbar, dass du/ihr uns an eurem inneren Diskurs teilhaben lasst- ich lasse das jetzt gerade erst einmal sacken, das ist viel Stoff, nur eins: ich sehe die Erinnerung als einen Boden, die Erde, die mich trägt, in der ich verwurzelt bin- aber so mancher und manche und manches hat darin geharkt, gegraben, wachsen gelassen, heraus gezupft, von daher ist die Erde nicht immer nur meine Erde, da liegt in ihr und über anderes und hat sie verändert … die Erinnerung. Hieran schliesst sich ja unweigerlich die Frage wie wahr ist meiner Erinnerung, was ist wahr, was nicht und wie verweben sich Erinnerungen mit Schöpfungen des Geistes. Die Natur des Geistes sei leer, sagen die buddhistischen Lehren und allein das zu begreifen heisst viele Stunden Stille …

    hier höre ich auf, ich merke gerade, dass ich ausufere- also sage ich erst einmal danke für die inspirierenden und vertiefenden Gedanken, vielleicht komme ich später noch einmal zurück

    herzliche Abendgrüsse
    Ulli

    1. Ach, schön, Ulli, ja, es ist viel Stoff für Gedanken. Die veränderliche Erinnerung! Schaust du auch manchmal in deine Tagebücher und bist erstaunt? Ich habe mitunter das Gefühl, ich lese im Tagebuch Gedanken von einer fremden Frau! Anna von Augenzeuge Kunst hat neulich überlegt, alle ihre Tagebücher zu entsorgen. Jürgen war ganz entsetzt! Ich habe meine Tagebücher aus dem Keller geholt und nun liegen sie in meinem Arbeitszimmer. Ich habe noch nicht die Zeit gefunden, sie zu lesen. Aber ich werde sie nicht entsorgen.
      Einen schönen Nachmittag von Susanne

      1. ja, ich lese auch immer mal wieder in meinen Büchern und manchmal geht es mir so, wie du es beschreibst, ein anderes Mal bin ich richtig froh zu merken, dass ich gelernet habe, dass ich weitergekommen und gegangen bin-
        Tagebücher entsorgen ist auch nicht mein Ding, erst wenn ich sterbe sollen sie mit mir verbrannt werden, aber da motzt mein Sohn, mal sehen-

        1. Ich mache mir auch Gedanken, um was ich meinen Sohn bitte soll und um was nicht! Ich habe einen weißen Ordner, da sind alle wichtigen Unterlagen und Bitten enthalten. Mein Sohn weiß, wo er steht. Mal sehen, ich habe mir ja vorgenommen, 105 Jahre alt zu werden, da habe ich noch Zeit für Entscheidungen und ich denke, dass sich die Prioritäten in den nächsten Jahren auch immer wieder verschieben werden.

          1. gerade muss ich schmunzeln, ich wollte immer 130 Jahre alt werden, aber das sehe ich doch mittlerweile anders … vielleicht haben wir noch viele Jahre, auch miteinander und können uns an den Wandlungen teilhaben lassen!
            herzliche Grüsse
            Ulli

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