Selbstbetrachtung einer Obdachlosen

 

Seit einigen Tagen spreche ich auf meinen Wegen durch den Wedding Obdachlose an.

So traurig es ist, bei jedem kleinsten Weg finde ich jemand, die / der mir entweder noch nicht aufgefallen ist oder wo ich vor unserem Ausstellungsprojekt „Querbrüche – Obdachlos“ noch nicht geschaut habe. Warum habe ich nicht gesehen? Ich bin Künstlerin und eigentlich ist es doch meine Arbeit, zu sehen und widerzugeben.

 

Obdachlos - Das Paradies kann warten - Zeichnung von Susanne Haun (c) VG Bild Kunst, Bonn 2018
Obdachlos – Das Paradies kann warten – Zeichnung von Susanne Haun (c) VG Bild Kunst, Bonn 2018

 

Ich habe mit Nina vom Eichhörnchenverlag darüber diskutiert. Empfinden wir eine Scham, das Elend näher zu betrachten? Schauen wir weg? Trauen wir uns nur die leeren Schlafplätze und den Besitz der auf der Straße lebenden zu betrachten? Das sind Fragen, die ich künstlerisch untersuche.

Eigentlich wollte ich von den Gesprächen in chronologischer Reihenfolge berichten. Aber das Gespräch heute hat mich sehr aufgewühlt. Ich habe mit einer Frau gesprochen, die an verschiedenen Ecken um den Leopoldplatz sitzt. Sie besitzt nur noch einen Zahn und ist schätzungsweise zwischen 25 und 40 Jahre alt, etwas korpulent, sehr schmutzig und ich sehe sie oft mitten auf dem Bürgersteig schlafen. Ich vermutete, dass sie keine Scham kennt und so war das Gespräch, was ich mit ihr führte, eine große Überraschung für mich.

Sie wollte mir ihren Namen nicht nennen, sie möchte nicht von mir gezeichnet werden und schon gar kein Foto von sich in der Ausstellung sehen, aber ich darf über sie schreiben.

Sie sei nicht obdachlos, erzählte sie mir. Ihre Freizeit sei stark beschränkt, sie würde Putzaufgaben haben, die Landwirdschaft machen und sei in ihrer Arbeit integriert. Sie hätte soviel Häuser, Burgen und Schlösser zu putzen. Sie wohne im Himmelsland im Sicherheitsland der Kirche. Sie wäre zufrieden und liest kirchenbezogene Schriften oder jahreszeiten bezogene Literatur. Sie findet nicht, dass sie in die Obdachlosenszene hereinpasst, sie sei in zwangsmäßiger Not in Bezug auf ihre Arbeit.

Sie meinte das ganz ernst. Ist es Verdrängung der eigenen Situation? Ist sie krank? Kann man ihr helfen? Ich bin überfordert. Als ich im Gehen bin, bekommt sie ein warmes Brötchen von einer Passantin. Sie schaut das Brötchen gerührt an.

Wenn ich mit den Betroffenen spreche, dann setzte ich mich zu ihnen auf den Boden der Straße. Eine Familie kam während des Gesprächs vorbei und der Mann sagte abfällig, dass nun schon zwei Frauen da säßen. Mit der zweiten Frau meinte er mich. Ich weiss immer noch nicht, wie ich das emotional bei mir und generell in mein Denken einordnen soll.

Die Zeichnungen sind nicht im Zusammenhang mit dem Interview entstanden, sondern es sind Beobachtungen der letzten Wochen in Berlin, Wedding.

 

 

 

28 comments

  1. Liebe Susanne, ich finde es sehr stark, was du da machst, meine Hochachtung! Gerade vorhin unterhielt ich mich lange mit einer Künstlerin aus Hannover. Sie gestaltet mit Acrylfarben, Sand und Holz Bilder von Flaschensammlern aus ihrer Stadt. Sie erzählte, dass diese Menschen sie oft überrascht und beeindruckt haben. Wie auch immer man sich zu diesem Teil der Gesellschaft positioniert, es sind Menschen. Sie haben Schicksale, die wir nicht verstehen und auch nicht verändern werden, aber deine Aufmerksamkeit bedeutet wahrscheinlich sehr viel für sie!
    Liebe Grüße von Elke

    1. Danke für den Zuspruch, liebe Elke. Ich hoffe, dass die Ausstellung genau dieses zeigt, Menschen mit Schicksalen, einsame Menschen, die von der Gesellschaft ausgegrenzt sind.
      Liebe Grüße von Susanne

  2. Das ist eine ganz feine Arbeit, Susanne, ich bin beeindruckt. der Respekt, mit dem du dich den Menschen näherst, ihre Habseligkeiten zeichnest, ihre Geschichte anhörst, ist so wohltuend. Das ist zutiefst menschliche Kunst und heilsam für die Betroffenen und die Betrachter gleichermaßen.

  3. Liebe Susanne! Ich bewundere Dich. Du überschreitest Grenzen auf der Suche nach Ergebnissen und kommst selbst an Grenzen. Und bringst mich als Leser ebenfalls an Grenzen. Ich muss dies alles, was ich bisher in den zwei Blogberichten gelesen habe noch sacken lassen. Es bewegt mich, Du bewegst mich.
    Liebe Grüße, schönes Wochenende
    Juergen

  4. oh, liebe susanne, das finde ich toll!
    ja, es sind menschen mit ihrer ganz eigenen geschichte, die wie auch immer dort gelandet sind… sicher freuen sie sich über zuwendung, und etwas über sie zu erfahren, erweitert sicher wiederum den eigenen horizont. erzähle von ihnen, in worten, in bildern. danke!

    1. Ja, das gesamt Projekt erweitert meinen Horizont. Es handelt sich um eine Thematik, die ich bisher noch nicht intensiv behandelt habe, die mich aber doch sehr in den Bann zieht. Ich weiss nicht, ob wir mehr als Wertschätzung erreichen können, aber das finde ich schon sehr viel.

  5. Liebe Susanne, du gehst ganz nah dran, das braucht Mut und ja, das macht was mit dir und auch mit mir, die ich das lese. Ich denke an den Zen-Roshi, Bernard Glassman, der u.a. retreats anbietet, bei denen die Teilnehmenden über mehrere Tage auf der Straße leben und betteln müssen, sich also obdachlos fühlen müssen – er hat in New York eine Küche eingerichtet, die ehemals Obdachlose für Obdachlose betreiben – ich wurde auf ihn durch ein Buch aufmerksam, das er zusammen mit Konstantin Wecker verfasste: „Es geht ums Tun und nicht ums Siegen“ – vielleicht magst du das ja für dein aktuelles Projekt lesen?!
    Die Geschichte der Frau berührt mich und deine Frage, dass du als Künstlerin doch „eigentlich“ sehen müsstest auch!
    Danke
    Ulli

    1. Liebe Ulli, danke für den Tip, ich habe mir das Buch gleich bestellt. Im Moment lese ich die Autobiografie von Richard Bronx und bin nicht so begeistert. Vor allem stört mich seine Art, mit Frauen umzugehen. Wenn ich mir eine verantwortliche Gesellschaft wünsche, ja sie sogar fordere, dann sollte ich auch selber bereit sein, Verantwortung zu übernehmen.
      Das Leben ist immer ein geben und nehmen. Darüber bin ich noch am Nachdenken.
      Gleich werde ich noch etwas darüber zeichnen, liebe Grüße von Susanne

      1. gerne, liebe Susanne, bin sehr gespannt wie es zu dir sprechen wird!
        Verantwortung kann man ja auf sehr unterschiedliche Weisen übernehmen, ich denke auch immer wieder darüber nach, jetzt, als „Kindergärtnerin“ ist es einfach und auch mit der Begleitung von Jugendlichen, aber ich würde auch noch gerne mehr tun! Durchaus auch in und durch meine Bilder.
        herzliche Grüße, Ulli

  6. Danke für deine Betrachtungen liebe Susanne. Ich empfand bei meinen Begegnungen ebenso und bin zu dem Schluss gekommen, dass mich meine Ohnmacht überwältigt, nicht jedem Menschen helfen zu können. Bei besonders schweren Fällen rufe ich einen Mitarbeiter des Sozialdienstes der Stadt an, welcher sich dann um diese Person kümmert und verschiedene Hilfemöglichkeiten anbietet. So haben sich auf meinen fussläufigen Wegen durch die Stadt manche Bekanntschaften ergeben und man grüßt sich mit Namen, was doch mache andere Menschen irritiert, doch ich fühle mich besser, diese freien Menschen mit in mein Leben zu integrieren, wobei dies in Berlin eher unmachbar ist, aufgrund der hohen Zahl. Nicht jeder bettelt unfreiwillig auf der Straße, manche möchten einfach nicht zum System gehören und den Anderen kann ja geholfen werden. Nur Mut!

    1. Lieber Arno, ich denke, die Obachlosen, denen man auf seinen Wegen immer wieder begegnet mit Namen anzureden ist schon ein Stück Respekt, der den Menschen Mut gibt. Denn nichts ist schlimmer als Namenlos zu sein. Ich werde in der nächsten Zeit jemand von der Bahnhofsmission am Zoo interviewen und bin gespannt, wie er das Thema sieht und was er berichtet.
      Das werde ich wiederum berichten.
      Es ist ein spannendes Projekt, das mich auch zu neuem künstlerischen Ausdruck führt.
      Liebe Grüße sende ich dir aus dem immer noch so warmen Berlin, Susanne

      1. Dankeschön, liebe Susanne. Stimmt, es hat etwas mit Respekt zu tun und dem Bedürfnis auch selbst nicht als Namenloser Mensch oder nur eine Aktennummer gesehen zu werden. Ich wünsche dir sehr viel Erfolg für dein Projekt und bin schon auf deine neuen Berichte gespannt! Hab einen wunderbaren Tag, so wie wir hier ebenfalls, auch wenn es gerne mal regnen dürfte.

  7. Super., Susanne, ich finde dein Engagement ganz großartig.
    Man lernt soviel auch über sich selbst im Kontakt mit „ausgegrenzten“ Menschen. Ich fühle oft diese unendliche Hilflosigkeit, wenn ich mich ein wenig mit diesen Menschen beschäftige. In Dortmund gibt es jede Menge Obdachloser…auch sehr stark verwahrloste, was für mich rein olfaktorisch schon eine große Herausforderung ist, gebe ich zu.
    Mit mehreren hatte ich längere Zeit Kontakt, einem habe ich auch ein wenig künstlerisch Unterstüzung gegeben, ihm Farben, Pinsel und Leinwände gekauft und Korrektur seiner Werke gegeben, andere waren dankbar für frische Wäsche, warme Pullover oder einfach nur Aufmerksamkeit. Einem Obdachlosen- und daran erinnere ich mich sehr lebhaft- war diese Aufmerksamkeit sogar schlicht zuviel. Zuviel Aufhebens um seine Person. Er war lieber unsichtbar. Vielleicht, weil er es so gewohnt war? Ich weiss es nicht.

    ich finde es ganz prima, dass diese Menschen in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken und uns aus unserer Komfortzone herausbringen. Du trägst solch ein großes Stück mit deiner Kunst dazu bei! Danke dafür.

    1. Danke, Vera, die Geschichten, die ihr mir alle erzählt, berühren mich. Manchmal ist eine kleine Hilfe so einfach zu bewerkstelligen und bewirkt viel.
      Der obdachlose Künstler, der interessiert mich, Vera. Arbeitet er auf der Straße? Wo verwahrt er seine Kunst auf? Ich weiss, dass die meisten allerhöchtens einen Rucksack mit ihren Habseligkeiten besitzen.
      Liebe Grüße von Susanne

      1. Ja, der obdachlose Künstler malte „Zuhause“, wohnte mit mehreren in einer kleinen Wohnung, aber trieb sich meist auf der Strasse herum. War alkohol- und drogenabhängig und geriet immer wieder auf die schiefe Bahn.
        Ich lernte ihn in Dortmund kennen, wo er die Obdachlosen Zeitschrift „BODO“ verkaufte. Wir kamen ins spräch, ich unterstützte ihn lange Zeit. Doch als ich ihm wiederholt Geld geliehen hatte, was er „garantiert Morgen“ wieder zurückzahlen wollte, aber niemals zurückgezahlt hat, legt ich ihm auch keine Münzen mehr in seinen Sammelbecher.

        Den Zeitschriftenverkauf hatte man ihm inzwischen auch untersagt, da er mehrfach die Kunden angepöbelt hatte. Ich hatte noch zweimal beim Verlag für ihn interveniert, aber ein drittes Mal wollte ich ihn aus seinen Schwierigkleiten auch nicht mehr rausholen.

        Leider hat er meine Unterstützung in Sachen Kunst nicht wieter genutzt. Zweimal zeigte er mir seine Werke, die durchaus Potential hatten und ich wollte mich auch für eine Ausstellungsmögluichkeit für ihn einsetzen, doch irgendwann blieb er einfach weg und später erfuhr ich, dass er zu einem Entzug in eine Klinik gebracht worden sei.

        Danach hielt ich noch eine Weile Kontakt, aber nachdem er, wie schon gesagt, mir mein Geld schuldig blieb, wollte ich mich auch nicht ausnutzen lassen.

        1. Liebe Vera,
          ich habe oft gehört, das Hilfe ausgenutzt wird, habe es selber in einem anderen Zusammenhang erlebt. Man möchte Gutes tun und geht dann dabei selber zu Grunde. Ein Mensch kann sich nur selber ändern und nicht geändert werden. Es ist gut bei aller Hilfe eine Distanz zu den Menschen zu bewahren. Man muss sich auch selber schützen. Denn wenn man selber zu Grunde geht, dann kann man nicht mehr helfen.
          Komme gut durch den Tag, LG Susanne

  8. Liebe Susanne,
    ich kann mich Elke T. nur anschliessen: meine Hochachtung! Ich weiss nicht, ob ich das koennte. Hier in Fredericksburg haben wir keine Obdachlosen – jedenfalls habe ich noch nie welche gesehen. In den Grossstaedten schon. Ganz besonders hat mich die Situation in San Francisco ueberrascht, wie viele da waren – mitten in der Stadt, mit ihren Einkaufswagen voll mit ihrem Hab und Gut. Aber auch viele, die wohl nicht unbedingt obdachlos waren, sondern betrunken oder unter Drogen einfach herumlungerten. Ein „Nebenaspekt“ davon, den ich bisher nirgendwo anders gefunden habe: selbst auf belebten Einkaufsstrassen stank es an vielen Ecken nach Urin. Das ist fuer mich einer der bleibenden Eindruecke von San Francisco.
    Danke, liebe Susanne, fuer diesen Beitrag hier, der mich veranlasst, mein Verhalten zu ueberdenken. Ich glaube, ich fuer meinen Teil schaue doch zu viel einfach weg.
    Liebe Gruesse, und hab‘ einen feinen Restsonntag,
    Pit

    1. Lieber Pit,
      da hast du ja kein so schönen Eindruck von San Francisco. Ich war vor 25 Jahren das letzte mal in dieser schönen Stadt und erinnere mich nicht an Obdachlose. Es kann gut sein, dass ich nicht richtig geschaut habe, ich war sehr jung und hatte ganz andere Dinge im Kopf. Der Westen der USA beeindruckt mich durch seine Natur, die ich gerne nochmal mit mehr Ruhe sehen will.
      Du hast Recht, Obdachlosigkeit geht oft mit Alkohol- und Drogensucht einher. Ich habe gerade in dem Buch von Richard Bronx gelesen, dass es unter den Obdachlosen auch noch so etwas wie Klassen gibt, von ganz unten bis eben nicht ganz unten, was immer man darunter verstehen soll.
      LG von Susanne

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